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The Time After
Koronarer Massenauswurf
DPA: Eine Filament Eruption hat sich in den frühen
Morgenstunden des 21.12.2012 von der Sonne gelöst und eine große
Menge Plasma in Richtung Erde geschleudert.
Die NASA bestätigte den Auswurf vor wenigen Augenblicken. Mit
einem Auftreffen des Sonnenplasmas auf die Erde ist gegen 18 Uhr
MEZ zu rechnen.
www.wort.online.de/newsticker: Hatten die Mayas Recht?
Pünktlich zum 21.12.2012 trifft eine gewaltige Plasmawolke die Erde.
Ist das unser Ende? Wissenschaftler sagen voraus, dass der Strom
auf der ganzen Welt ausfallen könnte und erst wieder nach einigen
Wochen zur Verfügung steht. Wird die Welt ins Mittelalter zurück
katapultiert? Und was ist mit unseren Atomkraftwerken? Wie lange
hält dort die Notstromversorgung? Kommt es zum Supergau? Lesen
Sie weiter auf Seite 3…
15. Mai 2040 - Erinnerungen der Claudia Menge
Ziehet aus und machet euch die Welt Untertan. Das gilt nicht mehr für uns. Insekten beherrschen die Welt. Und mit ihr die wenigen überlebenden Menschen.
Heute haben wir Jens begraben. Wie immer war es um die Mittagszeit, wenn die Ungeheuer noch nicht so zahlreich umherstreifen. Und wie immer ging es sehr schnell. Obwohl so viele von uns gegangen sind, ist es eines der wenigen Gräber. Karl sprach einige tröstende Worte, die Grube wurde zugeschaufelt, die kleine Jess legte ein Bund Wiesenblumen auf das Grab und schon zogen wir uns ins Versteck unter der Erde zurück. Jetzt bin ich die Älteste der Gruppe. Mit gerade einmal vierzig Jahren. Und ich werde die Nächste sein, die sich für das Überleben der Gruppe opfern muss, um die Jungen zu schützen. Ich werde mein Schicksal erfüllen. Routinemäßig fällt mein Blick auf den Geigerzähler. Halbwegs normale Werte.
Ich erinnere mich noch an den Tag, als das Chaos begann. Ich saß mit Schwester und Vater im Wohnzimmer. Der Fernseher lief und wir warteten, dass Mutter uns zum Abendessen rief. Sie wollte zu Papas Geburtstag etwas Besonderes kochen. Der Nachrichtensprecher im Fernsehen sagte etwas von einem Sonnensturm. Von Plasma, das auf uns zurasen würde. Wir sollten uns keine Sorgen machen. Lediglich die UV-Strahlen würden in den nächsten Stunden etwas höher als sonst sein. Wir sollten einfach das Haus nicht verlassen.
Und plötzlich war alles anders. Kein Strom mehr. Von einer Minute auf die andere funktionierte nichts mehr. Kein Licht. Kein Fernseher. Kein Computer. Und der Herd heizte auch nicht mehr. Wir hatten Angst. Es wurde klar, dass wir eine unglaublich schwere Zeit vor uns hatten.
Eine Zeit, die niemand aus meiner Familie überleben würde.
Zunächst gab es kein Essen und Wasser zu kaufen. Dann kamen die Plünderer. Und dann die Ungeheuer.
Erst waren sie relativ klein, traten aber in unglaublich großer Zahl auf. Dann wurden sie immer größer. Fraßen, was an Nahrungsmitteln noch übrig war. Und dann kamen die Menschen an die Reihe. Wir mussten unser Haus verlassen, als Kakerlaken in der Größe von Rottweilern es belagerten. Nur mit Mühe und unter Verlust von Schäferhund Terry, der uns mit seinem Leben verteidigte, kamen wir davon. Wir Kinder hatten keine Gelegenheit zum Nachdenken. Folgten wie unsere Mutter einfach Paps.
Irgendwann waren wir an der Kaserne. Oberhalb unserer Stadt. Ich erinnere mich, dass außer uns noch Hunderte Menschen dort waren.
Erst hat man uns gesagt, wir dürften nicht hinein. Später, als laute Geräusche die Ankunft einer riesigen Meute Ungeheuer ankündigten, ließ man uns doch noch herein. Wir kauerten uns an die Wände der Kaserne und beobachteten mit Schrecken, was sich vor dem die Kaserne umgebenden Stacheldraht tat. Soldaten mit Flammenwerfern standen dicht an dicht und versengten die Ungetüme. Ein Geruch nach verbranntem Popcorn breitete sich aus. Das Knacken und Knirschen von Chitin-Hüllen ließ uns zusammenschrecken. Aber die Abwehr hielt. Die Biester zogen sich zurück.
Doch sie kamen wieder. Zusammen mit einem der strengsten Winter, die ich je erlebt hatte. Die Vorräte in der Kaserne gingen langsam aber sicher zur Neige und es wurden Gruppen losgeschickt, um in Häusern und Geschäften nach Nahrung zu suchen. Von sieben Gruppen mit je fünf Mann kamen nur zwei zurück. Was sie berichteten, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren. Die Stadt war wieder bevölkert. Aber nicht mit Menschen, sondern von Heerscharen an Insekten, die bizarrste Formen entwickelt hatten. Mutationen, die in unglaublich kurzer Zeit durch erhöhte Radioaktivität entstanden waren.
Offensichtlich kam es nach dem Ausfall des Stromnetzes zu Kernschmelzen. Die Soldaten berichteten außerdem von riesigen Ameisenhügeln, die nun die Vorgärten und Wiesen prägten. Ständig wurde die radioaktive Strahlung gemessen. Mehrfach verboten sie uns, die Gebäude zu verlassen, wenn der Wind aus Richtung der zerstörten Kraftwerke herüberwehte. Trotzdem waren wir ständig einer Strahlungsmenge ausgesetzt, die unseren Körpern zusetzte. Erste Kinder mit Missbildungen wurden geboren. Es gab Totgeburten. Mütter verbluteten während der Entbindung und erste Strahlentote waren zu beklagen.
Meiner Mutter fielen die Haare gleich büschelweise aus. Ihr Zahnfleisch fing an zu bluten und sie fühlte sich matt und krank.
Eines Morgens wachte sie nicht wieder auf.
Nachdem Insekten eines Tages die Absperrung überrannt hatten und erst nach langen Minuten zurückgedrängt werden konnten, war meine Schwester nicht mehr da. Vater und ich weinten nicht. Wir hatten keine Tränen mehr. Und irgendwann war auch Vater verschwunden.
Die Angriffe der Ungeheuer mehrten sich. Wir waren schon fast am Aufgeben, als der Funker eine Nachricht empfing. Es gab tatsächlich noch andere Menschen, die es wie wir geschafft hatten, ihr Funkgerät zu reparieren. Das Wunder war geschehen. Wir sollten gerettet werden. In der Nähe Berlins gab es einen unterirdischen Bunker, zu dem sie uns bringen wollten. Wir warteten voller Ungeduld zwei Wochen und dann kamen sie. In einem Konvoi von sieben gepanzerten Mannschaftstransportwagen mit beeindruckenden Flammenwerfern rollten sie auf unsere Kaserne zu. Zerquetschten dabei alle Insekten, die im Wege standen.
Wir jubelten, als sie das Tor passierten, und stürmten zu ihnen. Zwei in klobigen weißen Strahlenschutzanzügen steckende Personen stiegen aus dem vordersten Fahrzeug, blickten lange auf die Anzeige ihrer Geigerzähler und winkten dann nach hinten. Jetzt öffneten sich die Luken aller Transporter und wir durften nach der obligatorischen Untersuchung auf Radioaktivität einsteigen. Kaum waren alle an Bord, schlossen sich die Luken der Kettenfahrzeuge wieder und wir fuhren, immer wieder durch Attacken riesiger Ungeheuer aufgehalten, gen Berlin.
„Claudia!“
Eriks Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Er stand aufgeregt winkend neben der Bodenluke zu unserem Unterschlupf, und strahlte übers ganze Gesicht. „Claudia! Komm schnell! Ich hab ein Signal!“
War das nach all den Jahren möglich? Ich konnte es kaum fassen.
„Schnell! Sie können nur kurz senden!“
Ich stolperte mehrmals auf dem Weg vom Bunker zum Gebäude, das als Funkraum dienste. Riss sogar fast eines der Kinder um. Aus den Lautsprechern an den Wänden drang Knistern. Und dann hörte ich tatsächlich eine verzerrte Frauenstimme.
„Seid ihr noch da?“
„Hallo! Ja, wir sind noch da. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich zu hören.“
„Und wie ich mich freue! Ihr seid die Ersten, die ich erreichen konnte! Wie viele seid ihr? Wir sind zweihundert. Und im Nachbartal gibt es noch eine Gruppe mit fast hundert Leuten.“
„Wir sind nur noch vierzig. Wie konntet ihr mit so vielen Leuten überleben?“
„Wir sind in den Alpen. Das Gebirge hält die meiste Strahlung ab. Und es gelang uns, die Täler gegen Monster abzuriegeln. Ich muss jetzt Schluss machen, melde mich aber am Abend wieder!“
Dann vernahm ich nur noch das Knistern.
„Können wir da auch hin? Ich meine, ins Gebirge!“
Jess stand in der Tür und sah mich mit ihren großen blauen Augen an.
„Die Frau sagte, dass es in den Bergen kaum Ungeheuer gibt!“
„Alle sollen in den Aufenthaltsraum kommen. Los! Lauf schon!“
Jess rannte los, um Bescheid zu sagen, und zehn Minuten später waren alle um mich versammelt.
„Jess hat euch ja informiert. In den Alpen gibt es wohl Gruppen Überlebender. Die Lage soll dort nicht so schlimm wie hier sein!“
Wieder stellte Jess die Frage, ob wir dahin können.
„Heute Abend werden wir wieder mit ihnen in Kontakt treten. Soll ich sie bitten, uns bei sich aufzunehmen?“
Ich sah jedem Einzelnen in die Augen und redete dann weiter.
„Besser als hier wird es allemal sein. Die Ungeheuer rücken immer näher an uns ran. Und auch die Lavendelfelder scheinen sie nicht mehr abzuschrecken. Ich bin dafür!“
Zur Bekräftigung schlug Erik mit der Faust auf den Tisch und zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum.
„Euch ist klar, dass es eine gefährliche Reise wird? Wir sind den Ungeheuern fast ungeschützt ausgesetzt!“
Sogar die schüchterne Lisa wollte dazu was sagen.
„Gefährlicher als hier kann es nicht werden. Ich bin dafür, dass wir fahren!“
Alle nickten und wir kamen zur Logistik.
„Wie sieht es mit gepanzerten Fahrzeugen aus? Wie viele sind einsatzfähig?“
„Vier Truppentransporter und zwei Panzer. Das dürfte reichen!“
„Und Treibstoff?“
„Eher nicht. Aber wir können unterwegs was aus LKWs absaugen!“
„Wie weit ist es bis ins Gebirge?“
Techniker Martin meldete sich zu Wort: „Luftlinie siebenhundert Kilometer, Fahrstrecke tausend, wenn wir uns von den Strahlungsgebieten fernhalten…“
Martin seufzte und fuhr fort: „Im Höchstfall schaffen wir fünfzig Kilometer je Stunde. Wenn wir nicht auf Hindernisse treffen. Das heißt zwanzig Stunden reine Fahrtzeit. Aber wir dürfen die Maschinen nicht überbeanspruchen. Die haben schon einige Jährchen auf dem Buckel. Mehr als fünf Stunden am Tag sind nicht drin. Und wir müssen auch mal schlafen. Das sind dann vier oder fünf Tage…“
„Wie sieht es mit den Vorräten aus?“
Dafür war Peter zuständig.
„Wenn wir alle Äpfel ernten und die restlichen Vorräte mitnehmen, könnten wir fünf Tage auskommen. Die Wasserkanister müssen auch noch aufgefüllt werden. Und was ist mit Berta, Rudolf und den Kleinen?“
„Die werden wir nicht in die Wagen bekommen!“
Ich sah Jess an.
„Tut mir leid. Wir werden sie schlachten müssen. Sie dienen dann als zusätzlicher Proviant!“
Und zu Peter gewandt: „Gut. Warten wir jetzt ab, was die Gebirgler sagen!“
Die Zeit nach der Besprechung schien langsamer als sonst zu vergehen. Immer wieder sah ich auf die große Uhr an der Wand des Aufenthaltsraumes.
Dann endlich rief Erik: „Sie ist wieder dran! Komm schnell!“
Ich war in Windeseile im Funkraum und ganz aufgeregt.
„Hallo! Kannst du mich verstehen?“
„Ja, hier ist wieder Kerstin. Ich kann dich laut und deutlich verstehen. Entschuldige, dass ich heute Mittag abgebrochen habe. Wir müssen mit dem Strom sparsam umgehen. Jetzt geht es auch nur einige Augenblicke. Wenn die Sonne hinterm Horizont verschwindet, liefern unsere Kollektoren keinen Strom mehr.“
„Entschuldige. Ich hab mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Claudia. Du kennst ja schon unsere Gruppenstärke. Besteht die Möglichkeit, dass ihr uns aufnehmt?“
Ich spürte die hoffnungsvollen und angespannten Blicke der Freunde hinter mir.
„Ich werde den Rat fragen. Die werden bestimmt nichts dagegen haben. Ein paar kräftige Hände können wir immer gebrauchen. Ich melde mich bei Sonnenaufgang wieder. Bis Morgen also!“
„Bis Morgen!“
Ich drehte mich um und blickte in strahlende Gesichter.
„Langsam, Leute. Noch ist nichts sicher. Sie können immer noch ablehnen. Und die Fahrt wird gefährlich. Ich denke nicht, dass alle es schaffen!“
Meine Freunde nickten, grinsten aber dabei. Offenbar wollten sie sich ihre gute Stimmung nicht verderben lassen. Und mit der Zeit steckten sie mich auch mit ihrem Frohsinn an. Einige überlegten, was sie außer dem Proviant mitnehmen sollten und was nicht. Die fünf Kinder packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und ich studierte mit Erik alten Karten, um den besten Weg ins Gebirge zu finden. Dann wollte Britta plötzlich mit dem großen Schlachtermesser zum Stall und ich musste doch noch einschreiten:
„Warte damit bis morgen. Es kann immer noch sein, dass sie uns nicht haben wollen.“
In dieser Nacht habe ich vor Aufregung und Anspannung kein Auge zugetan.
Noch vor Sonnenaufgang war ich im Funkraum. Und ich war nicht die Einzige. Die gesamte Gruppe stand da und diskutierte aufgeregt. Erik hatte das Funkgerät schon eingeschaltet.
„Hallo, Claudia. Bist du da?“
Die fröhliche Stimme Kerstins schallte aus den Lautsprechern.
„Hallo Kerstin. Ja, ich bin da. Hat euer Rat sich entschieden?“
Niemand in unserem Bunker sagte ein Wort. Ich vermutete, dass alle, genauso wie ich, den Atem anhielten.
„Moment. Der Rat steht hier neben mir. Der Vorsitzende will es euch selbst sagen.“
Nun war eine sehr tiefe Stimme zu hören.
„Guten Morgen, Claudia. Ich bin Torsten und spreche für den Rat. Wir sind ans Mikrofon gekommen, um euch mitzuteilen, dass heute eure Einreise…“
Der Rest des Satzes ging im Jubel der vierzig Menschen unter.
Wir waren willkommen. Tränen rannen über mein Gesicht. Und ich war nicht die Einzige, die ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Torsten gab uns noch Informationen, wo wir das Tal finden konnten. Ich markierte die Stelle auf der Karte mit einem dicken, roten Kreis.
Am nächsten Morgen wollten wir aufbrechen.
Weit vor Sonnenaufgang war alles verladen. Martin ging von Fahrzeug zu Fahrzeug. tätschelte jedes Einzelne. Murmelte dabei „Spring bloß an“. Und dann stiegen wir ein. Es war ziemlich eng, laut und schon nach kurzer Zeit sehr stickig. Aber in unserer euphorischen Stimmung machte es uns nichts aus. Wir fuhren die lange Rampe unseres unterirdischen Bunkers hinauf und hielten auf die Stacheldrahtumzäunung zu. Bald würde es auch hier vor Ungeheuern nur so wimmeln.
„Richtung Süden! Auf zu einem besseren Leben!“, rief Erik, und schon durchbrachen wir den Stacheldrahtverhau, der uns all die Jahre geschützt hatte.
Der Geigerzähler zeigte nur minimale Strahlung an, und wir fuhren die ersten Stunden unserer Reise ohne Zwischenfälle. Britta stand in der oberen Luke unseres Fahrzeugs. Über ihr war der riesige Drahtkorb zu erkennen, der sie vor Angriffen schützen sollte. Sie war im Augenblick für die Bedienung der Flammenwerfer zuständig. Aber es blieb zunächst alles ruhig.
Nach zweieinhalb Stunden legten wir die erste Rast ein, um die Motoren der Fahrzeuge nicht unnötig zu belasten. Ich löste Britta in ihrem Ausguck ab, um mir einen Überblick zu verschaffen. Die gepanzerten Fahrzeuge standen in einem engen Kreis und glichen einer Wagenburg aus einem der Western, die ich in meiner Kindheit so gerne gesehen hatte. Da keine Ungeheuer zu sehen waren, gab ich Anweisung, die Heckrampe runterzufahren.
Es war eine Wohltat, die frische Luft zu atmen. Peter verteilte Proviant. Fast hätte man denken können, dass wir ein fröhliches Picknick im Grünen veranstalten wollten, wären da nicht die Wachen auf den Fahrzeugen gewesen, die akribisch die Umgebung absuchten.
Nach einer Stunde brachen wir wieder auf. Heute wollten wir es noch bis zur Elbe schaffen und mit dem Fluss im Rücken ein halbwegs sicheres Lager aufschlagen. Spätestens in der Nacht würden wir auf die Ungeheuer treffen. Aber wir stießen früher auf sie. Britta schrie vor Ekel und Angst laut auf und zeigte aufgeregt nach vorne. Ich zwängte mich mit in die Luke. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. In etwa einem Kilometer Entfernung wogte eine schwarze Masse. Ich griff nach dem Fernglas.
Kakerlaken. Ein Meer von Kakerlaken, das uns den Weg versperrte. Ich suchte den Horizont ab. Wir würden einen großen Umweg fahren müssen. Hoffentlich erreichten wir die Elbe noch rechtzeitig vor Einbruch der Nacht.
Ich gab Anweisung, nach Westen auszuweichen. So fuhren wir eine Stunde in großem Abstand an der Kakerlaken-Flut entlang. Endlich erreichten wir einen Fluss. Auf der anderen Seite schien es sicher zu sein.
Unser Fahrzeug setzte als Erstes hinüber. Die Übrigen warteten, um Hilfe zu leisten, sollte es Probleme geben. Doch der gepanzerte Mannschaftstransportwagen konnte ohne Mühe das andere Ufer erreichen.
Nun folgten die Übrigen. Es dauerte fast zwei Stunden voller Bangen, bis wir aufatmen konnten. Diese Hürde war überwunden. Die Fahrzeuge hatten sich, trotz ihres hohen Alters, als immer noch schwimmtauglich erwiesen. Aber das hier war im Vergleich zur Elbe ein schmaler Fluss. Und die Fluten des großen Stroms waren reißender.
Nun übernahm Thomas´ Fahrzeug die Führung. Wir bildeten die Nachhut. Laut Karte lagen noch zwei Stunden Fahrtzeit vor uns, bis wir den Platz unseres Nachtlagers erreichen würden. Das war eine Stunde länger, als wir den Motoren eigentlich zumuten wollten.
Ich blickte auf, als Britta plötzlich aus Leibeskräften schrie. Was war geschehen? Ich drängte mich an ihr vorbei und blickte aus der Luke. Thomas´ Transportfahrzeug war verschwunden. Da, wo er eigentlich hätte sein müssen, klaffte ein gewaltiges Loch im Erdboden.
„Stopp! Zurück!“, schrie ich. In der Hoffnung, dass meine Stimme das Gedröhne der Motoren übertönte. Doch das zweite Fahrzeug verschwand schon in der sich weiter ausbreitenden Grube. Erst der nächste Transporter kam rechtzeitig zum Stehen.
„Jens, kannst was erkennen?“, rief ich dem Ausguck des vordersten Fahrzeugs zu.
„Nur eine tiefe Grube. Sie muss gewaltig sein.“
Dann hörten wir die Schreie. Und Augenblicke später sahen wir sie. Zunächst waren die kräftig orangebraunen, etwa einen Meter langen Beine zu sehen, dem ein Vorderleib in gleicher Farbe folgte. Dann kam der riesige, graubraune Hinterleib in Sicht. Das war die gigantischste Spinne, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Und es blieb nicht bei einer. Aus Bodenlöchern in weiter Umgebung kamen Dutzende auf uns zu gekrochen. Erik versuchte, die Bestien mit dem Flammenwerfer auf Abstand zu halten. Aber sie stürmten weiter auf uns zu.
„Zurück! Verdammt, alles zurück!“, rief ich mit Panik in der Stimme.
„Was ist mit den Leuten in den Fahrzeugen?“
Britta sah mich verzweifelt an.
„Denen können wir nicht helfen. Wir müssen weg, sonst sind wir auch verloren!“
Niedergeschlagen legte Erik den Rückwärtsgang ein. Die übrigen Fahrzeuge folgten uns. Ich übernahm nun den Ausguckposten. Wieder mussten wir einen weiten Umweg fahren. Dörfer und Städte, die sich auf unserem Weg befanden, mieden wir, weil sich dort erfahrungsgemäß die meisten Ungeheuer aufhielten. Die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu, als wir endlich die Elbe erreichten. Mit den Transportern bildeten wir eine Art Wagenburg, indem wir aus ihnen einen Kreis formten. Die Frontpartie der Fahrzeuge nach außen, die Heckpartie nach innen gerichtet. So hofften wir, die Nacht unbeschadet zu überstehen. Zudem richteten wir nach dem Abendessen einen Wachdienst ein, von dem nur die Fahrer und Beobachter ausgenommen blieben. Zwei noch funktionierende Nachtsichtgeräte aus dem Bunkerdepot halfen bei der Kontrolle der Landseite, während die Oberfläche der Elbe wegen des sternenklaren Himmels auch ohne technische Hilfsmittel gut zu beobachten war.
Und dennoch fehlte am nächsten Morgen die kleine Jess. Wir suchten das umliegende Gelände verzweifelt nach ihr ab, konnten sie aber nicht finden. Nur die von früheren Monsterattacken bekannten Schleifspuren im Erdboden verrieten uns, welches Schicksal sie wahrscheinlich ereilt hatte. Deprimiert stiegen wir in die Fahrzeuge und fuhren los. Zum Glück versagten die gepanzerten Transporter beim Durchqueren des Stroms nicht ihren Dienst, und wir kamen wohlbehalten am anderen Ufer an.
Von nun an ging es, wie vorher ausgemacht, die Saale entlang in Richtung Süden. Allerdings hielten wir nach dem nächtlichen Vorfall reichlichen Abstand zum Ufer.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir eine Pause einlegen wollten, um die Motoren zu schonen und uns zu stärken. Wir fuhren also auf einen Hügel, um die Umgebung besser überschauen zu können, und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Unter uns, in einem kleinen verträumten Tal, sahen wir eine Siedlung. Einige Menschen bearbeiteten Felder, andere kümmerten sich um Kühe, Schafe und Pferde oder arbeiteten an den Häusern.
Sie verhielten sich nicht so, als ob gleich Ungeheuer über sie herfallen würden. Und ich hörte sogar fröhliches Kinderlachen.
Verwirrt sahen wir uns an.
Britta war wie immer misstrauisch. „Da stimmt doch etwas nicht!“
Erik dagegen optimistisch. „Kann doch sein, dass es auf dieser Flussseite keine Ungeheuer gibt!“
Ich hatte wie Britta kein gutes Gefühl, wollte aber wissen, was da vor sich ging: „Hier soll es keine Monster geben? Ich weiß nicht! Aber lasst uns runterfahren, um es herauszubekommen. Und seid vorsichtig! Haltet eure Waffen griffbereit!“
Als wir uns der Siedlung näherten, kam uns eine Gruppe freundlich lächelnder Menschen entgegen. Einige Meter vor ihnen hielten wir an.
„Willkommen! Willkommen im neuen Eden!“
Ein Mann mit sonnengegerbter Haut, schlohweißen Haaren und einem weiten, erdfarbenen Umhang streckte uns die Hände entgegen.
„Ich bin Peter Vogt, der Bürgermeister. Wir freuen uns, euch zu sehen. Lange Jahre haben wir keinen Besuch mehr bekommen.“
Ich betrachtete ihn lange. Er lächelte, aber das Lächeln schien seine Augen nicht zu erreichen. Sie waren kalt wie Eis.
„Kommt“, rief er erneut. „Das müssen wir feiern!“
„Danke für die Einladung. Wir stellen erst mal unsere Fahrzeuge ab. Neben den Schuppen da vorn, wenn du nichts dagegen hast!“
Ich zeigte auf einige Holzgebäude am Rande der Siedlung. Es schien, als sei ihm mein Ansinnen nicht ganz recht, aber letztlich stimmte er mir zu.
Später, als wir den Platz in der Mitte der Siedlung erreichten, umringten uns mehr als einhundert Siedler aller Altersstufen. Sogar Hochbetagte konnte ich erkennen. Wie hatten sie es nur geschafft, zu überleben?
Alle redeten auf uns ein. Fragten uns, woher wir kommen würden. Warum wir mit diesen merkwürdigen Fahrzeugen unterwegs seien. Wohin wir wollten, und was wir alles erlebt hätten.
Auf dem Platz liefen derweil die Vorbereitungen für das Fest auf Hochtouren. Holz wurde aufgeschichtet und ein großes Feuer entzündet. Fleißige Helfer stellten Stühle und Tische auf, und die bogen sich bald unter der Last von Speisen und Getränken. Zum Essen spielte ein junger Mann Gitarre, und wir langten kräftig zu. Die Spannung in den Gesichtern meiner Gefährten war aber deutliches Indiz dafür, dass sie sich in Gefahr wähnten.
Später luden uns die Siedler ein, die Nacht im Dorf zu verbringen.
Wir dankten für das Entgegenkommen, verwiesen aber auf die Notwendigkeit, die Transporter die Nacht über im Auge zu behalten. Und erreichten in zähen Verhandlungen, dass wir in den Schuppen schlafen durften. Wieder unter uns, teilten wir die Wachen ein, und ich zog mich zum Schlafen zurück...
Es war kurz vor Mitternacht, als mich Kurt weckte. Leise stand ich auf und folgte ihm nach draußen. Vorsichtig hob er den rechten Arm und gab mir die Richtung vor, in die ich schauen sollte.
Einige Sekunden brauchte ich zur Gewöhnung an die Dunkelheit, doch dann sah ich den Bürgermeister auch auf dem Kamm des Hügels stehen. Für die späte Stunde kurios genug. Noch seltsamer fand ich aber seine Begleiterin. Eine Kuh, die er am Seil führte. Der Dorfschulze schien mit einem unsichtbaren Dritten zu sprechen und zeigte wiederholt auf die Schuppen, in denen unsere Leute schliefen.
Dann erblickte ich sie. Dutzende Ameisen, die den Bürgermeister körperlich weit überragten, ihn aber nicht angriffen, sondern in unsere Richtung zu marschieren begannen.
Schnell weckte ich meine Gefährten und gebot ihnen, sich leise zu den Transportern zu begeben. Wir schlichen hinaus, stiegen durch die offen gelassenen hinteren Luken in die Fahrzeuge und fuhren wenig später los.
In letzter Sekunde, dachte ich mir, als die Dorfbewohner auf uns zustürmten. Bewaffnet mit Fackeln, Dreschflegeln und Stöcken, die einen Höllenlärm verursachten, als die Angreifer mit ihnen auf die Transporter einschlugen. Auch die Ameisen beschleunigten ihre Schritte, doch zum Glück nahmen die Fahrzeuge schnell Geschwindigkeit auf, und die Lichter der Siedlung blieben bald hinter uns.
„Was war das denn? Die machen gemeinsame Sache mit diesen Viechern?“ Britta, die wieder ihren Ausguckposten eingenommen hatte, schüttelte sich angeekelt.
„Die fressen uns nicht alle, wenn wir ihnen hin und wieder Vieh oder Menschen übergeben.“
Erschrocken drehte ich mich um. In einer Ecke, verdeckt von Rucksäcken, saß ein kleiner Junge von etwa sieben Jahren.
„Was machst du denn hier?“, fuhr ich ihn an, hatte aber ein schlechtes Gewissen, als ich sah, wie er zusammenzuckte.
„Ist ja gut. Du brauchst keine Angst zu haben. Warum bist du in das Fahrzeug geklettert und hast dich versteckt?“
„Ich hab gehört, dass die Großen euch an die Ameisen verfüttern wollten, um eine Weile von eigenen Opfern verschont zu bleiben. Ich wäre der Nächste gewesen, den sie diesen Viechern übergeben. Früher oder später. Da habe ich es vorgezogen, mich hier zu verstecken. In der Hoffnung, dass euch die Flucht gelingt!“
Ich sah, dass dem Jungen Tränen über die Wangen liefen und nahm ihn in meine Arme.
„Keine Angst, Kleiner. Wir nehmen dich ja mit. Wie heißt du denn?“
„Ich bin der Stefan!“
Er zog seine Nase hoch.
„Und ich bin schon sieben!“
Ich hatte mich mit dem Alter also nicht geirrt.
„Hallo Stefan. Ich bin die Claudia. Du legst dich jetzt erst mal hin und schläfst. Danach unterhalten wir uns weiter!“
Ich bereitete ihm aus Rucksäcken und Decken ein Lager, und er schlief auf diesem fast augenblicklich ein.
„Du hattest Recht, Britta“, flüsterte ich, damit Stefan nicht aufwachte. „Aber mit so was hab ich nicht rechnen können. Wir werden uns jedenfalls von weiteren Siedlungen fernhalten!“
Wir fuhren die ganze Nacht hindurch, ohne auf die Motoren Rücksicht zu nehmen. Zu grauenvoll war der Gedanke, dass uns die Ameisen folgen würden.
Als die Sonne aufging, befanden wir uns in einer übersichtlichen Ebene und stellten die Transporter in bewährter Art auf. Die Fahrer legten sich schlafen und die Übrigen, bis auf die Wachen, dösten vor sich hin.
Es wurde nicht geredet. Zu entsetzt waren alle von den nächtlichen Ereignissen. Die größten Sorgen bereitete mir die Intelligenz der Riesenameisen, die sogar in der Lage waren, mit einer anderen Spezies Bündnisse einzugehen.
Gegen Mittag brachen wir wieder auf. Stefan war wach und erzählte uns noch einmal vom Pakt mit den Monstern. Einmal in der Woche brachten die Siedler den Ameisen Tiere oder Menschen. Die Ameisen schienen dem Bürgermeister Anweisungen zu geben, was ihnen geopfert werden sollte. Als Gegenleistung konnten die Menschen ein halbwegs normales Leben führen.
Wir waren trotz der Umwege schneller vorangekommen, als gedacht. Vor uns konnte ich schon den Main erkennen. Wir beschlossen, wegen der schlechten Erfahrungen bei unserem ersten Lagern, die Nacht etwas weiter vom Fluss entfernt zu verbringen. Die Fahrzeuge standen wieder im engen Rund. Zusätzlich waren die Zwischenräume mit Barrieren aus Erde abgesichert. So verlief diese Nacht ruhig, und niemand kam zu Schaden.
Es sollte die letzte ruhige Nacht sein.
In den frühen Morgenstunden kam Bernd zu mir und erklärte, dass wir dringend Kraftstoff für unsere Fahrzeuge benötigten. Ich seufzte. Wir würden also doch menschliche Siedlungen aufsuchen müssen.
Wir fuhren über weite, brachliegende Felder und konnten bald Stallungen und ein halb verfallenes Wirtschaftsgebäude erkennen. Vorsichtig hielten wir auf das Gehöft zu. Von Ungeheuern weit und breit keine Spur. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Die Biester lebten im Untergrund und warteten nur auf ihre Chance.
Vorsichtig näherten wir uns den Gebäuden und erkannten nach und nach Einzelheiten. Neben den Stallungen standen zwei landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, die ihre beste Zeit längst hinter sich hatten. Aber vielleicht war noch Kraftstoff in ihren Tanks. Erik kam mit unseren Transporter direkt neben einem Traktor zu stehen. Er sprang hinaus, untersuchte die Tanks, und als er damit fertig war, strahlte er übers ganze Gesicht. Die Tanks waren noch fast voll. Der Kraftstoff nicht verdunstet. Und auch in einem großen Dieselbehälter fand sich nach einiger Suche noch ein Rest des benötigten Kraftstoffs.
Sämtlichen Treibstoff teilten wir unter den Fahrzeugen auf und durchsuchten zudem die Gebäude nach nützlichen Dingen, doch außer einigen Gaskartuschen fanden wir nichts. Dafür erschreckte uns, in welchem Ausmaß das Wirtschaftsgebäude verwüstet war. Wir waren uns einig, dass hier riesige Tiere gewütet hatten und es unserer Sicherheit diente, wenn wir nach einem Imbiss schnell wieder aufbrachen.
Die Landschaft wurde von Minute zu Minute hügeliger. Und obwohl das Bergpanorama am südlichen Horizont nur mit Mühe zu erkennen war, verriet es uns, dass es bis zu den Alpen nicht mehr weit war.
Und wieder kamen wir an einen breiten Strom, bei dem es sich vermutlich um die Donau handelte. Trotz der erkennbaren Schwierigkeit, mit unseren Fahrzeugen überzusetzen, wollten wir unbedingt vor Einbruch der Nacht am anderen Ufer sein. Ich wies Erik an, den Strom als Erster des Konvois zu durchqueren.
Es wurde eine lange Überfahrt und die Strömung trieb uns weit ab, aber letztlich schafften wir es, wie nach uns der zweite Transporter, heil ans andere Ufer zu kommen. Blieben also die von uns mitgeführten Panzer. Beide fuhren nacheinander in den Strom hinein und hielten sich trotz starker Strömung zunächst gut. Auf halbem Wege blieben sie aber plötzlich stehen. Und obwohl ihre Motoren immer wieder aufheulten, kamen sie nicht mehr vom Fleck. Aufgeregt rief ich ins Funkgerät: „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht“, kam als Antwort. „Es scheint, als ob wir festhängen!“
Ich nahm das Fernglas und suchte die Wasseroberfläche rund um die Panzer ab.
„Da!“
Britta stand neben mir und hatte auch ein Fernglas vor den Augen. Sie zeigte auf den ersten Panzer, und was ich sah, erschütterte mich zutiefst. Auf breiter Front schob sich eine ungeheure Schlammschicht aus dem Wasser und legte sich über den ersten Panzer. Hüllte ihn vollständig ein und zog ihn unter die Wasseroberfläche. Dasselbe Schicksal erlitt auch der zweite Panzer mit seiner Besatzung, und am Ende war nichts mehr von beiden Kettenfahrzeugen zu sehen.
Tieftraurig stand ich mit den anderen Augenzeugen der Katastrophe am Donauufer. Von ursprünglich vierzig Kameraden, ging es mir durch den Kopf, lebten jetzt nur noch neun. Und wenn ich den kleinen Stefan hinzuzählte, der nicht von meiner Seite wich, waren wir eine zehnköpfige Gruppe.
Lange waren wir außerstande, uns zu bewegen. Zu grausam war die uns erteilte Lektion. Erst nach Stunden löste sich die Schockstarre allmählich und wir schlichen gesenkten Hauptes zu den Transportern.
Wir fuhren an diesem Tag noch dreißig Kilometer südwärts. In dieser Gegend hatte ich als Kind mit meinen Eltern einen Urlaub verbracht, aber das war lange her. Alles hatte sich seither verändert.
Von den hübschen Häusern, die mehr und mehr verfielen, über die einst gepflegten und jetzt verwilderten Vorgärten bis zu den asphaltierten Straßen, die inzwischen einem Flickenteppich glichen.
Wir waren nahe am Ziel. Ich spürte es. Nur noch eine Nacht mussten wir überstehen.
Wir suchten und fanden für unser Lager einen Standort, von dem aus wir Angreifer früh bemerkten. Ich übernahm die erste Nachtwache, blieb aber im Fahrzeug und stand im Ausguck. Über mir erstreckte sich der sternenklare Himmel, und ich war in der Stimmung, über unsere Zukunft zu sinnieren, kam aber nicht dazu.
Erik hatte seinen geliebten CD-Player eingeschaltet. Und trotz der Kopfhörer auf seinen Ohren verstand ich den Text nur zu gut:
„Zehn kleine Jägermeister rauchten einen Joint, den einen hat es
umgehauen, da waren's nur noch neun. Neun kleine Jägermeister
wollten gerne erben, damit es was zu erben gab, musste einer sterben.
Acht kleine Jägermeister fuhren gerne schnell, sieben fuhren
nach Düsseldorf, einer fuhr nach Köln…“
Jetzt reichte es mir. Erik hörte sich tatsächlich den Song der Toten Hosen von den zehn kleinen Jägermeistern an! Wie konnte er in unserer Lage so geschmacklos sein?
„Mach das aus“, fauchte ich, „wie kannst du dir das heute reinziehen?“
„Warum? Ich hör die Gruppe gern!“
„Dann denk mal nach! Wir sind nur noch zu zehnt. Das Lied ist…“
Seufzend schaltete Erik den Player aus und legte sich schlafen.
Und ich konzentrierte mich wieder auf die Nachtwache.
Ein Blick auf den Geigerzähler zeigte mir, dass die radioaktive Strahlung hier höher als anderswo war. Nicht so stark, dass sie eine unmittelbare Gefahr für uns bedeutete. Aber die Mutationsrate dürfte hier viel größer als auf unserem bisherigen Weg liegen.
Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckte ich zusammen. War ich nur überreizt oder vernahm ich etwas, das Gefahr signalisierte?
Dann stand plötzlich Stefan neben mir und zog an meiner Jacke:
„Hörst du das auch? Ein seltsames Geräusch!“
Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich lauschte in die Nacht hinaus und sah die Ameisen aus einem Wald mit verkrüppelten Kiefern auf uns zustieben.
„Alarm!“, schrie ich. „Startet die Motoren!“
Erik pellte sich aus seinem Schlafsack und kroch in Windeseile zum Fahrersitz. Zum Glück sprang der Motor sofort an und unser Fahrer gab Vollgas. Ich stand immer noch im Ausguck und sah die Ameisen näher und näher kommen. Beim zweiten Transporter schien es Probleme mit dem Motor zu geben. So sehr sich die Besatzung auch mühte – das Fahrzeug kam einfach nicht vom Fleck.
In ihrer Not betätigten die Kameraden die rechts und links an der Außenwand angebrachten Flammenwerfer, konnten aber die Aggressoren damit nicht aufhalten. Die ersten Ameisen opferten sich, indem sie die Feuerwaffen außer Gefecht setzten. Und die nächsten Monster hatten schon leichtes Spiel, als sie den Transporter samt Besatzung unter ihren Leibern begruben.
Etliche Ameisen wollten sich mit der erlegten Beute nicht zufrieden geben und verfolgten uns, holten uns aber nicht ein, weil wir mit Höchstgeschwindigkeit vor ihnen flohen. Gegen jede Vernunft, aber wem half es, wenn das Fahrzeug heil blieb und seine Besatzung auf der Strecke?
Nach einer halben Stunde gaben die Riesenameisen endlich auf, und wir konnten das Tempo gefahrlos drosseln. Ich schaltete eine kleine Lampe an und studierte die Karte. Weit konnte es nicht mehr bis zum Taleingang sein.
Und dann sahen wir hoch in den Felsen ein Licht. Wir waren ganz in der Nähe unserer neuen Heimat!
Wenige hundert Meter weiter stand ein Mann am Wegesrand, der eine Fackel schwenkte. Erik stoppte den Transporter.
„Seid ihr die Brandenburger? Hattet ihr nicht mehr Fahrzeuge?“
„Das ist eine lange und schreckliche Geschichte“, antwortete ich und fühlte mich seltsam beschwingt. Sorgen und Ängste, sogar die Trauer um die verlorenen Gefährten schienen angesichts des Vorboten unseres neuen Zuhauses wie eine Zentnerlast von mir abzufallen.
„Wie fahren wir jetzt weiter?“, wollte ich wissen.
Der Mann nickte als Zeichen des Verstehens, stieg zu und erklärte uns den Weg, wofür wir ihm herzlich dankten. Dann startete Erik den Transporter wieder, und dreißig Minuten später kamen wir schon zum engen Tor, das zusammen mit riesigen Betonwänden das Tal der Verheißung vor Eindringlingen sichern sollte. Rechts und links des Weges waren zudem Wachposten platziert, und den folgenden engen Korridor säumten scharfkantige Felsen.
Dann waren wir endgültig am Ziel. Vor uns erstreckte sich ein breites Tal. Trotz Dunkelheit erkannten wir schemenhaft Felder und Weiden mit Herden von Kühen, Schafen und Pferden. Gemächlich fuhren wir weiter und gelangten schließlich zur ersten Siedlung, in der uns Dutzende Menschen freudig begrüßten.
Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Das ist jetzt mehrere Wochen her. Wir wurden freundlich aufgenommen und fühlen uns schon wie zu Hause. Stefan weicht immer noch nicht von meiner Seite.
So schlendere ich heute mit Karsten an den Getreidefeldern entlang, Stefan wie immer an meiner Hand.
Karsten erzählt, dass er früher Ingenieur in einem Kernkraftwerk war. Natürlich wussten die Betreiber, dass es bei einem extrem langen Ausfall des Stromnetzes zu einer Katastrophe kommen würde. Ein so genannter Stresstest hatte ergeben, dass viele Kernkraftwerke nur über eine zeitlich stark begrenzte Notstromversorgung verfügten. Als durch den Koronaren Massenauswurf die Stromversorgung zusammenbrach, war es deshalb eine Frage der Zeit, bis der Supergau eintrat. Und das letztlich bei allen Kraftwerken. Das wäre womöglich durch leistungsfähigere Notstromaggregate zu verhindern gewesen, doch hatten sich die Betreiber geweigert, das hierfür erforderliche viele Geld aufzubringen…
„Kennst du den Unterschied zwischen Dinosauriern und Menschen?“
Ich sah Karsten erstaunt an und schüttelte den Kopf.
„Dinosaurier sind durch eine Naturkatastrophe ausgestorben. Wir Menschen hingegen werden durch eigene Dummheit und Profitgier von der Bildfläche verschwinden.“
- Ende -