Schicksal

 

Allein

Sie war wie immer allein.

Niemand war da, mit dem sie sich beraten konnte.

Niemand war da, der sie trösten konnte.

Allein.

Seit diesem verhängnisvollen Sonntagabend war sie vollkommen auf sich gestellt.

Sie konnte sich weder bei ihrer Familie, noch bei Freunden blicken lassen.

Alle hassten sie.

Alle fürchteten sie.

Allein.

Wie sehr sehnte sie sich danach in ihr Haus zurückzukehren und den normalen Familienalltag wieder aufnehmen zu können. Ein normales, gutbürgerliches Leben, wie alle anderen Menschen es auch führten.

Es war ihr nicht vergönnt.

Vorbei.

Sie kannte ihr Schicksal. Man hatte sie darauf vorbereitet, als sie sie anflehte. Trotzdem hatte Eileen dieses Schicksal angenommen. Natürlich hatte sie die Wahl. Man hat immer eine Wahl. Aber sie hatte diese Variante der Zukunft gewählt.

Wäre sie an diesem Sonntag doch nicht allein zuhause gewesen. Alles wäre anders gekommen.

Aber so war ihr Schicksal besiegelt.

Eileen ging in Gedanken versunken zurück zu ihrer Unterkunft in einem anonymen Mietshaus in Berlin Kreuzberg. Hier fiel sie mit ihrem langen, schwarzen Umhang nicht auf. Nur ein weiterer Freak, der durch die Nacht stromerte.

Sie öffnete die Tür der Wohnung, die sie seit zwei Monaten als ihre Zuflucht betrachtete.

Zwei Monate.

Zwei volle Monate war es her, seit sich alles veränderte. Sie hatte alles verloren. Ihren Mann, ihre Tochter, ihre Freunde.

Eileen ging in die kleine, fensterlose Küche und kochte Wasser für eine Tasse Tee.

Fünfzehn hatte sie heute erledigt. Und drei gerettet.

Bald war es vorbei.

Wehmütig setzte sie sich vor den Fernseher und schaltete ihn ein. Es lief eine dieser unvermeidlichen Soaps. Sie achtete nicht darauf.

Eine Träne rann über ihre Wange, als sie an jenen 27. Juli zurückdachte, als alles begann.


Rückblende

Es war später Nachmittag, als sie von ihrer Gartenarbeit ins Haus kam. Das Unkraut wuchs aber auch in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit, dass man gar nicht mit dem Jäten nachkam. Sie blickte sich noch einmal um und begutachtete ihr Werk.

Schmuck sah der kleine Garten wieder aus. Der Rasen war gemäht, die vertrockneten Blüten abgeschnitten und kein Unkraut verschandelte mehr das Gesamtbild eines sauberen, gepflegten Kleinstadtgartens.

Sie stellte ihre Gartenschuhe in den Flur und tapste auf nackten Sohlen durch den Flur in Richtung Badezimmer.

Bevor ihr Mann und ihre Tochter aus dem Kino heimkamen, wollte sie noch ausgiebig baden. Das Wasser rauschte in die Badewanne und der heiße Dampf begann die Scheiben des Fensters zu beschlagen.

Sie wusch sich die Gartenerde von ihren Händen und holte sich frische Wäsche aus dem Schrank.

Gerade wollte sie ihre grüne Bluse aufknöpfen, als das Geräusch zersplitternder Scheiben sie aufschrecken lies.

Zunächst dachte sie, eine ihrer Katzen hätte mal wieder eine Vase aus dem Regal gestoßen. Sie seufzte. Das war dann schon die Dritte in dieser Woche.

Doch dann hörte sie dieses laute Knurren. Das konnte keine Katze gewesen sein.

Vorsichtig öffnete sie die Badezimmertür. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die Küche. Da die Küchentür offen stand, konnte sie mühelos hineinsehen.

Nichts.

Hier befand sich niemand.

Leise, um ja kein Geräusch zu verursachen, trat sie auf den Flur. Auch hier war niemand zu sehen. Eileen näherte sich vorsichtig der Wohnzimmertür.

Wieder hörte sie dieses grauenhafte Knurren, dass sie keiner Kreatur zuordnen konnte.

Warum war sie nicht einfach weggelaufen? Warum hatte sie unbedingt nachsehen müssen?

Noch heute war es ihr ein Rätsel.

Ihre Hand näherte sich dem Türgriff. Ein scharrendes Geräusch direkt hinter der Tür ließ sie innehalten.

Angst überfiel sie. Panische Angst.

Sie war nicht in der Lage auch nur einen Körperteil zu bewegen. Ihr Unbewusstes schrie förmlich, sie solle umdrehen und durch die Haustür am anderen Ende des Flures fliehen.

Warum hörte sie nicht auf ihre innere Stimme?

Alles wäre anders verlaufen. Sie würde jetzt nicht einsam und verlassen in dieser heruntergekommenen Wohnung sitzen, einen Teebeutel in ein Glas heißes Wasser halten und über die Vergangenheit nachdenken. Stattdessen säße sie vermutlich, chipsknabbernd und glücklich, mit ihrem Mann und ihrer Tochter vor dem Fernseher in ihrem gemütlichen Heim.

Aber sie öffnete die Wohnzimmertür.

Der Anblick, der sich ihr bot, war erschreckend und faszinierend zugleich.

Die große Glasscheibe des Wohnzimmerfensters lag in tausenden Stücken im ganzen Wohnzimmer verteilt. Das Sofa stand nun an einem völlig anderen Platz, ebenso der schwere Eichentisch. Die Fensterbank war vollkommen leergefegt und die Blumentöpfe waren im ganzen Zimmer verteilt.

Und plötzlich stand es vor ihr.

Ein Monster, das den schlimmsten Albträumen entsprungen schien.

Es überragte sie um Kopfeslänge. Sein heißer, stinkender Atem ließ sie erschaudern. Seine glühenden, gelben Augen blickten gierig auf sie herab.

Eileen gelang es endlich, sich wieder zu bewegen. Sie drehte sich um und versuchte, um Hilfe schreiend, die Haustür zu erreichen.

Aber sie hatte nicht den Hauch einer Chance.

Nach wenigen Schritten spürte sie, wie sich scharfe Krallen in ihren Rücken bohrten. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war der Geifer, der dem Monster aus dem weit geöffneten Fang tropfte. Dann schwanden ihr die Sinne.

Rebecca stieg glücklich aus dem Auto. In letzter Minute hatte sie ihren Vater doch überreden können den Film “Mama Mia” anzusehen. Ausgerüstet mit Popcorn und Cola hatte sie einen wunderbaren Nachmittag verbracht. Schade nur, dass ihre Mutter nicht mit dabei war. Aber die wollte ja unbedingt den Garten in Ordnung bringen.

In diesem Augenblick sah sie ihre Freundin Mira aus dem Haus auf der anderen Straßenseite kommen. Aufgeregt winkte sie ihr zu.

“Papi, ich lauf schnell mal rüber zu Mira. Ich muss ihr unbedingt den neuen Manga zeigen, den du mir vorhin gekauft hast.”

“Bleib aber nicht so lange. Es gibt gleich Abendessen.”

“Bin gleich wieder da. Mira muss ja noch zu Max. Heute ist Sonntag. Da gibt sie ihm immer Mathe-Nachhilfe.”

Rebecca lief zu ihrer Freundin und die beiden verschwanden im Haus.

Langsam schlenderte Dennis auf die Eingangstür zu und suchte den Hautürschlüssel in seiner Jackentasche. Er öffnete die Tür und erstarrte.

Am Ende des Flures, direkt hinter der geöffneten Wohnzimmertür, senkten sich die spitzen Zähne eines Windudämons gerade in den Hals seiner am Boden liegenden Frau.

Was er, Zaubermeister Dennis Issen, Vorsitzender des Hohen Rates, in seinen schlimmsten Albträumen nicht für möglich gehalten hatte, geschah in diesem Augenblick.

Ein Windu in seiner kleinen Stadt. Ein Windu in seinem eigenen Haus. Ein Windu, der dabei war, das Leben seiner geliebten Frau auszulöschen.

Dennis erwachte aus seiner Erstarrung und schleuderte dem Dämon all seine Magie entgegen, die er in seiner Wut und Verzweiflung aufbringen konnte.

Der Dämon wurde durch die Kraft, die ihn traf, quer durch das Wohnzimmer geschleudert und blieb leblos unter dem zerstörten Fenster liegen.

Dennis eilte zu Eileen. Blut quoll aus der tiefen Bisswunde am Hals. Er konnte die Blutung mit Hilfe seiner Magie schnell stoppen, war sich aber bewusst, dass dies nicht das einzige Problem war.

Der Windudämon hatte seine Frau nicht nur schwer verletzt, durch den Biss war sie höchst wahrscheinlich bereits von dem Virus befallen worden, der sie binnen kürzester Zeit selbst zu einem Dämon transformieren lassen würde.

Er wusste, dass es keine Hoffnung gab. Trotzdem hob er Eileen vorsichtig vom Boden, öffnete eine Passage durch die Campi, die alle Orte der Welt miteinander verbanden, zum geheimen Anwesen der Lichtwächter.


Lichtwächter

Er begab sich mit seiner Frau sofort zum Labor und legte Eileen auf eine der Untersuchungsliegen.

Dendrake, der gerade einige Versuche mit Dämonenblut durchführte, sah ihn erstaunt an.

“Dennis, was ist denn passiert? Warum bringst du deine Frau hierher? Sie ist keine von uns. Sie darf von unserer wahren Identität nichts wissen.”

Dann fiel sein Blick auf den blutverschmierten Hals Eileens. Dendrake wurde kreidebleich.

“Windu?”

Dennis nickte nur. “Was passiert ist, erzähl ich dir später. Wir müssen schnellstens ihr Blut untersuchen. Vielleicht…”

Skeptisch sah Dendrake ihn an. Er wusste, dass die kleinste Schramme, die durch die spitzen Zähne eines Windudämonen verursacht wurde, unweigerlich zu einer Infizierung und damit zu einer Transformation führt.

Trotzdem staute er das Blut in Eileens linken Arm mit einem Gummiband, desinfizierte die Armbeuge, stach die dünne Kanüle der Spritze vorsichtig hinein und nahm ihr Blut ab.

Dendrake löste die Manschette und lief mit der Probe in das angrenzende Labor, gab einige Tropfen einer Indikatorflüssigkeit dazu, stellte die Probe in die Zentrifuge und schaltete sie ein.

Ein leises Surren erfüllte den Raum.

Nach wenigen Augenblicken färbte sich die Blutprobe pechschwarz.

Dennis, der Dendrake ins Labor gefolgt war, schloss verzweifelt die Augen.

Nun hatte er Gewissheit. Seine Frau war mit dem Winduvirus infiziert.

Sie war verloren.

Innerhalb weniger Stunden würde sie sich in einen Dämon verwandeln, der keinerlei Erinnerungen an seine menschliche Existenz mehr besaß.

Sie würde Jagd auf Menschen machen und selbst die eigene Familie nicht verschonen.

“Sie muss getötet werden, bevor sie zu einer Gefahr wird. Nur die Mächtigen könnten sie retten, aber Ihr wisst selbst, dass sie sich weigern in die Geschicke der Menschen einzugreifen.” Dennis und Dendrake drehten sich zu Phil um, der zusammen mit Eva und Stephanie unbemerkt das Labor betreten hatte. “Dennis, du weißt, dass sie getötet werden muss.”

Phil legte eine Hand tröstend auf Dennis Schulter. „Es tut mir so leid.“

Langsam, wie in Trance, nickte Dennis. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

“Dann macht schnell, ich möchte nicht, dass sie leiden muss.” Er ging langsam auf die Tür zum Nebenraum zu, die immer noch halb geöffnet war, um seiner Frau in ihren letzten Minuten beizustehen.

Seine Hand berührte den Türgriff und er öffnete die Tür vollends.

Zum zweiten Mal an diesem Tag blieb er wie versteinert stehen.

Die Liege, auf der sich vor wenigen Minuten noch der ohnmächtige Körper seiner Frau befunden hatte, war leer. Nur einige wenige Blutflecken zeugten davon, dass sie tatsächlich darauf gelegen hatte.

Die Glastür, durch die man in den weitläufigen Garten gelangen konnte, stand offen.

Phil drängte sich an Dennis vorbei in den Raum und stürmte in den Garten.

Von Eileen war weit und breit nichts zu sehen. Sie musste schon den nahen Wald erreicht haben, der das Grundstück umschloss. Eine Suche war sinnlos. Der Wald dehnte sich kilometerweit aus und sollten sie tatsächlich Glück haben und Eileen finden, hätte sie sich zwischenzeitlich in einen gefährlichen Dämon verwandelt.

Dendrake legte tröstend eine Hand auf Dennis Schulter.

Eileen trank einen Schluck Tee. Mit Schaudern dachte sie an die Angst die sie ausgestanden hatte, als sie damals die Gespräche im Nebenzimmer gehört hatte, nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war.

Sie würde sich also in eine dieser grässlichen Kreaturen verwandeln und nichts konnte den Prozess aufhalten. Dann erwähnte einer der Männer im Nebenraum irgendwelche Mächtigen, die helfen könnten, sich aber nie in die Belange der Menschen einmischten.

In Gedanken flehte sie diese Mächtigen an. Ihr gesamtes Bewusstsein schrie ihre Ängste heraus. Sie wollte kein Dämon werden, wollte sich nicht verwandeln. Unter keinen Umständen.

Als sie schon alle Hoffnung aufgegeben und aus dem Nebenraum vernommen hatte, dass man sie töten wollte, umfing ihr Bewusstsein plötzlich eine gleißend helle Aura.

Erst hörte sie ein Wispern. Dann konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden.

“Du flehst uns an Dir zu helfen? Nun, wir werden es tun. Wir werden dafür sorgen, dass du kein Dämon wirst. Eine andere Verwandlung wird vorgenommen werden. Du wirst von uns mit großer Macht ausgestattet. Wie du diese Macht nutzt, liegt bei Dir. Wir werden Dir die möglichen Zukunftslinien zeigen. Du wählst, welche dann eintreffen wird.”

Sie spürte eine unglaubliche Hitze in sich aufsteigen. Sie glaubte, verbrennen zu müssen. Jede Faser, jede Zelle ihres Körpers schien in Flammen aufgegangen zu sein. Und dann kamen die Bilder…

Es war grauenhaft.

Eileen nahm noch einen Schluck Tee, der mittlerweile abgekühlt war.

Sie hatte sich entschieden.

Im Nebenraum machte man sich bereit, sie zu töten.

Eileen wälzte sich von der Liege. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befand sich eine Glastür, die in einen großen Garten führte.

Eileen öffnete sie und rannte, so schnell sie nur konnte, auf den Wald zu.

Sie hatte die ersten Bäume des dicht stehenden Gehölzes erreicht. Schnell versteckte sie sich hinter einem der Bäume und blickte zurück zum Anwesen.

Eine Gruppe Männer rannte in diesem Augenblick aus der offen stehenden Terrassentür.

Ihr Herz schlug wie wild.

Sie durfte nicht aufgehalten werden. Zu viel stand auf dem Spiel.

Erleichtert erkannte sie, dass die Männer sie nicht verfolgten, sondern mit ernsten Minen zurück ins Haus gingen.

Eileen ging mit ihrer Tasse in die kleine Küche, spülte die Tasse und stellte sie in den winzigen Hängeschrank über der Spüle.

Sie würde morgen neuen Tee kaufen müssen, stellte sie nach einem Blick in den Schrank fest.

Eileen beschloss sich schlafen zu legen. Der morgige Tag würde wieder anstrengend werden. Sie hatte noch viel zu erledigen, bevor ihr Schicksal sich erfüllen sollte.


Jagd

Regen peitschte gegen die Scheiben des Schlafzimmerfensters, als Eileen am späten Nachmittag aufwachte. Gute Voraussetzungen für die Dämonenjagd. Sie würde wegen des Regens nicht so schnell von ihnen gewittert werden.

Nach einer ausgiebigen Dusche, zog Eileen ihre tiefschwarze Kleidung über, legte die Gesichtsmaske an und verließ das Haus.

Ihr Ziel war ein verlassener Schrottplatz.

Kein Laut war zu hören, als sie den Metallzaun überwand, der den Patz umgab.

Sie roch sie bereits jetzt. Es mussten mindestens fünf Windudämonen auf dem Gelände sein.

Die aufgestapelten Autowracks boten ihr gute Deckung. Langsam schlich sie auf das Zentrum des Schrottplatz mit der niedrigen Verwaltungsbaracke zu, immer bemüht, keine Geräusche zu verursachen.

Ein Zischen und Sirren erfüllte plötzlich die Luft. Ein Aufschrei, ein Stöhnen und dann das wohlbekannte Knurren der Windudämonen folgten.

Menschen waren offensichtlich von diesen Biestern in einen Hinterhalt gelockt worden.

Sie sah Energieblitze aus Richtung der Verwaltungsbaracke auf einen Stapel Schrottautos zuschießen. Für einen kurzen Augenblick wurde eine menschliche Silhouette hinter dem geöffneten Barackenfenster sichtbar.

Es waren also Magier, die hier gegen die Windus um ihr Leben kämpften.

Eileen überprüfte mit ihren Sinnen die Umgebung. Die Windus hatten einen Bannkreis um die Baracke gezogen. Mit menschlicher Magie war es nicht möglich einen Weg durch die Campi zu öffnen. Die Magier saßen in der Falle.

Hinter einem Stapel Altmetall entdeckte sie eine der Kreaturen. Sie war sich der leichten Beute in der Baracke offenbar so sicher, dass sie alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen hatte.

Eileen hatte ein leichtes Spiel.

Sie stahl sich vorsichtig hinter das Monster, ließ einen Magieball in ihrer rechten Hand entstehen und schleuderte ihn dem Monster entgegen.

Der Windu hatte keine Zeit zu reagieren, ja, er merkte nicht einmal, dass er getroffen wurde. Tot sank er zu Boden.

Eileen huschte weiter. Den zweiten, dritten und vierten Dämon konnte sie auf die gleiche Weise vernichten.

Nun war nur noch ein Untier übrig.

Das Wimmern im Innern der Baracke wurde lauter.

Eileen musste sich beeilen.

Da. Eine Bewegung neben einem der vordersten Schrottautos.

Ein Magieblitz wurde aus der Deckung des Autos auf die Baracke geschossen und riss ein großes klaffendes Loch in das Wellblech. Ein Angstschrei drang an ihre Ohren.

Eileen schlich näher an das Auto heran.

Der Windu hatte sie nicht bemerkt. Seines Sieges und der menschlichen Beute sicher, setzte er an, noch einen Magieblitz auf die Baracke zu schicken. Eileen kam ihm zuvor. Noch solch einen Treffer würde die Baracke wohl nicht aushalten und die Magier darin wären verloren.

Die Kugel an magischer Energie traf den Dämon, kurz bevor er sein Ziel anvisieren konnte und tötete ihn auf der Stelle.

“Es ist vorbei. Die Windus sind tot. Ist jemand von Euch verletzt?” Eileen trat hinter ihrer Deckung hervor.

“Wer sind Sie? Sind die Biester tatsächlich tot? Ja, Andrea hat´s böse erwischt.” Kam es aus der Hütte.

Eileen beeilte sich in das halb zerstörte Innere zu kommen. Sie sah eine junge Frau, die ihre Hände auf eine große, blutende Bauchwunde gepresst hatte. Die Gewissheit, gleich sterben zu müssen, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Eileen kniete sich neben sie und legte eine Hand auf die bleiche Stirn der Verletzten, die andere Hand auf die blutverschmierten Hände der Frau. Dann konzentrierte sie sich. Alles um sie herum wurde unwichtig. Der einzige Gedanke war Heilung.

Die junge Frau spürte keinen Schmerz mehr. Erstaunt sah sie von Eileen zu ihrem Begleiter. Dann schloss sich langsam die Bauchwunde. Neue Haut bildete sich und nur die blutverschmierte, zerfetzte Kleidung zeugte von der schrecklichen Verwundung.

“Du musst Deine Begleiterin von hier wegbringen. Sie hat viel Blut verloren und ist noch sehr schwach. Der Bann um die Baracke existiert nicht mehr. Ich öffne einen Weg durch die Campi. Schnell. Einer Eurer Ärzte muss sie weiter versorgen.”

“Danke.” Verwirrt und dankbar hielt der Mann Eileen seine Hand entgegen. “Wer bist du?”

Eileen zögerte. Sie durfte Identität nicht preisgeben.

“Das ist egal. Du musst dich beeilen. Deine Begleiterin muss ärztlich versorgt werden.”

Sie öffnete ein Portal für die Magier, drehte sich um und verschwand hinter einem Stapel Schrottautos.

Das war ja heute schnell erledigt. Sie beschloss bei Luigi einzukehren und ihre geliebte Spaghetti Bolognese al Forno zu bestellen. Luigi war ein wahrer Künstler, was die Zubereitung von Pasta betraf. Außerdem hatte sein Lokal kleine Nischen, in denen man unbeobachtet war.

Eileen öffnete die Lokaltür und schob den dunkelroten Samtvorhang zur Seite, der Gäste vor Zugluft schützen sollte.

Sofort bemerkte sie, dass etwas anders war als sonst.

Das Lokal war vollkommen menschenleer. Kein Gast, kein Kellner war zu sehen und auch Luigi stand nicht hinter seinem Tresen.

Eileens Sinne waren sofort allarmiert.

Langsam näherte sie sich der ersten Nische.

Vorsichtig blickte sie hinein.

Leer.

Auf dem kleinen Tisch sah sie einen Teller mit Salat und eine halb aufgegessene Pizza.

Eileen berührte den Pizzateller. Er war noch warm.

Was immer mit dem Gast geschehen war, es konnte noch nicht allzu lange her sein.

Sie ging zur nächsten Nische.

Auch hier war niemand. Nur halb aufgegessene Speisen befanden sich auf den Tellern.

In jeder Nische bot sich ihr das gleiche Bild. Was war hier nur geschehen?

Sie ging weiter in Richtung Küche und blieb plötzlich stehen.

Der Geruch, der aus der Küche drang, war nicht der von gebackener Pizza oder gebratenem Fleisch. Es war ein Geruch, den sie seit zwei Monaten nur zu gut kannte. Windudämonen. Hier hatten Windudämonen ihr Unwesen getrieben.

Vorsichtig öffnete Eileen die Pendeltür zur Küche. Das, was sie dann sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

An der Längsseite der Küche, dort auf der langen Arbeitsfläche, wo Luigi sonst seine Pizza belegte, türmten sich Leichenteile, tropfte Blut auf den gekachelten Boden und lief in unzähligen Rinnsalen zum Abfluss in der Mitte des Raumes.

Sie musste würgen. Sie musste hier weg.

Eileen lief durch die Küche, immer bedacht, nicht in eine der Blutlachen zu treten, die in großer Zahl den Boden bedeckten und verließ den Ort des Grauens durch den Hinterausgang.

Der Appetit war ihr vergangen.

In ihrem Unterschlupf angekommen, stand sie noch lange Zeit am Fenster ihres Wohnzimmers und blickte nachdenklich in die Dunkelheit.

Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Nie war sie so sicher, wie in diesem Augenblick. Und die Zeit war nah, dem allen ein Ende zu bereiten.

Eileen zuckte erschrocken zusammen, als es an der Tür klopfte. Sie erwartete niemanden. Sie hatte mit niemandem Freundschaft geschlossen und dieses anonyme Mietshaus als Unterschlupf gewählt, weil sie hier sicher sein konnte von keinem der Nachbarn angesprochen zu werden.

Das Klopfen wurde immer lauter und fordernder.

Seufzend ging Eileen zur Tür.

„Was wollen Sie? Ich lasse um diese Zeit niemanden mehr herein.“ Sie wollte schon umdrehen und in ihr Wohnzimmer zurückkehren, als sie eine ihr bekannte Stimme hörte.

„Mach auf. Wir müssen mit Dir reden.“

Dennis. Es war Dennis. Eileens Herz klopfte wie wild vor Freude und Überraschung. Ihr Mann stand vor der Tür. Und er wollte mit ihr reden.

Doch dann verdunkelten sich ihre Gedanken. Dennis und die anderen Mitglieder seiner Gemeinschaft hielten sie für einen Dämon. Der Besuch konnte also nichts Erfreuliches bedeuten.

Eileen zog ihren Umhang, die Handschuhe und die Gesichtsmaske über und öffnete die Wohnungstür. Vor ihr standen ihr Ehemann und noch zwei andere Männer, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die drei drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung.

„Was wollt ihr?“ Eileen blickte Dennis direkt in die Augen. Wie gerne würde sie ihn in die Arme schließen, aber der feindselige Gesichtsausdruck der drei Männer hielt sie davon ab.

„Wir sind auf dem Schrottplatz angekommen, als Du gerade gehen wolltest. Wir sind Dir gefolgt. Der Hohe Rat fordert Dich auf vor ihm zu erscheinen. Wir werden Dich jetzt magisch fesseln und dann dort hinbringen. Wir sind zu dritt. Es hat also keinen Zweck, Widerstand zu leisten.“

Hinter ihrer Gesichtsmaske musste Eileen, trotz ihrer Trauer, dass sie von ihrem Mann offensichtlich gehasst wurde, schmunzeln. Ihre Gegenüber waren zu dritt. Trotzdem hätte sie sie ohne Probleme besiegen können.

Doch sie wollte diese Menschen nicht verletzen. Zudem war die Zeit gekommen, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie spürte es deutlich.

Eileen lies sich also Fesseln anlegen und folgte den Männern durch die Campi in eine große holzgetäfelte Halle.

Sie sah sich um. Außer ihnen befanden sich noch andere Personen hier, die sie alle feindselig anstarrten. Niemand sprach ein Wort.

Nach wenigen Augenblicken öffnete sich eine Tür an der Stirnseite der Halle und sie wurde in einen Saal geführt, der an einen großen alten Gerichtssaal erinnerte.

Ihr gegenüber saßen, hinter langen Eichentischen, zwölf in schwarze Gewänder gehüllte Personen. Sie schienen alle sehr alt zu sein.

Man führte Sie in die Mitte des Raumes. Sie spürte, dass sich der Raum hinter ihr mit Leuten füllte.

„Nehmt ihr die Fesseln ab. Es sind genügend Magier hier, die sie bewachen können.“ Einer der schwarz gekleideten Männer erhob sich von seinem Platz und sah sie an, während Dennis ihr die magischen Fesseln abnahm.

„Schlag bitte die Kapuze zurück und entferne die Maske, damit wir Dein Gesicht sehen können.“

„Das werde ich nicht tun. Es ist noch nicht an der Zeit“, erwiderte Eileen.

Ein ungläubiges Murmeln ging durch den Raum. Man hatte offensichtlich nicht erwartet, dass sie sich den Anweisungen widersetzen würde. Sie bemerkte, dass einer ihrer Bewacher an sie herantrat. Offensichtlich wollte er ihr das Gesicht mit Gewalt entblößen.

„Halt! Lasst sie.“ Eine alte Frau am Ende der Tischreihe hatte ihre Hand erhoben. Und zu Eileen gewandt: „Zunächst einmal will ich hier die bekannten Tatsachen aufzählen. Du bist Eileen. Die Frau von Dennis. Vor zwei Monaten wurdest Du von einem Windudämon gebissen, hast Dich dann selbst in einen Windudämon verwandelt und bist seither auf der Flucht.“


Schicksal

Offenbar erwartete sie nur eine einfache Zustimmung zu ihren Ausführungen. Mit Erstaunen vernahm sie und die übrigen Anwesenden dann, dass ein „Nein, nicht so ganz.“ in einem festen Tonfall von Eileen kam.

„Was meinst Du mit: Nicht so ganz? Du bist gebissen worden. Du hast dich verwandelt und du warst auf der Flucht. Was stimmt daran nicht?“ Fragend blickte sie Eileen an.

„Nun, ich bin in der Tat gebissen worden. Ich war auf der Flucht. Ich habe mich verwandelt. Das ist alles richtig. Aber ich habe mich nicht in einen Windudämon verwandelt.“

„Das ist unmöglich.“ Eine männliche Stimme vom anderen Ende des Raumes schrie zu ihr herüber. „Jeder, der von einem Windu gebissen wurde, wird auch eins von den Biestern. Meine Frau und meine Kinder wurden auch…“ Die Stimme des Mannes versagte.

„Es ist möglich. Aber sie haben noch niemals…“ Die alte Frau sah Eileen entgeistert an. Dann wandte sie sich zu ihrem Nebenmann. „Erinnerst Du Dich? Erinnerst Du Dich an die Prophezeiung, die wir damals so beeindruckend fanden?“

„Wie kann ich sie jemals vergessen. Wir mussten damals zur Strafe 100 Prophezeiungen abschreiben. An die Eine werde ich mich immer erinnern.“ Er konnte ein Lachen nicht unterdrücken, als er an den Schabernack dachte, für den sie beide vor mehr als 70 Jahren diese sehr umfangreiche Strafe bekommen hatten. „Ich erinnere mich noch an jedes Wort:

In fernen Zeiten wird eine kommen,
erheben wird sie sich aus dem eigenen Dunkel
aufsteigen wird sie in die lichtesten Höhen des Seins.
Geschmäht, gejagt und gehasst von den Ihren,
wird sie sich opfern für sie,
denn sie liebt sie mehr als ihr eigenes Leben.“

Stille. Niemand wagte zu sprechen. Immer wieder sahen die im Raum Anwesenden abwechselnd zu den beiden alten Magiern und zu Eileen.

„Willst Du uns jetzt dein Gesicht zeigen? Bitte.“ Die alte Frau sprach in einem sanften Ton zu ihr. Sie schien zu verstehen. Also streifte Eileen zunächst ihre schwarzen Handschuhe ab, löste die Halterung der Gesichtsmaske und streifte sie zusammen mit der Kapuze herunter.

Ein Aufschrei ging durch den Raum.

Vor ihnen stand eine Frau mit leuchtendem, fast durchsichtigem Körper. Das lange, strahlendweiße Haar berührte fast den Boden.

„Was ist mit Dir geschehen? Mein Gott, was ist aus Dir geworden?“ Dennis konnte sich nicht mehr zurückhalten, lief zu seiner Frau und schloss sie fest in seine Arme.

„Der Dämon hatte mich infiziert. Als Du mich zur Untersuchung gebracht hast, wurde im Nebenraum davon gesprochen, dass nur die Mächtigen mir helfen können. Nun, ich wusste nichts von diesen Mächtigen. Trotzdem habe ich sie angerufen sie angefleht mir zu helfen. Und sie haben mir tatsächlich geantwortet. Sie haben mir angeboten dafür zu sorgen, dass ich mich nicht in einen Dämon verwandele. Stattdessen würden sie mich mit großer Macht ausstatten. Danach zeigten sie mir drei alternative Zeitlinien. Sie ließen mir die Wahl zu entscheiden, welche Zukunft Wirklichkeit wird.

Es existiert ein Riss zwischen den Dimensionen, durch den die Dämonen zu uns kommen. Heute Nacht wird er zu einem permanenten, weiten Durchgang.

Ich habe nun folgende Alternativen vorgestellt bekommen, zwischen denen ich wählen durfte.

In der ersten Alternative tue ich nichts. Die Dämonen werden wie die Heuschrecken über die Erde herfallen und alles Leben, auch mich, vernichten.

In der zweiten Alternative nutze ich meine Macht und begebe mich in eine andere, friedliche Dimension und überlasse Euch Eurem Schicksal.

In der dritten Alternative begebe ich mich in den Riss, verschließe und versiegele ihn von innen und lasse ihn, mit Hilfe meiner Magie, implodieren. Ihr wärt vor der Vernichtung gerettet.“

Dennis sah sie mit Tränen in den Augen an, als sie fortfuhr: „Ich habe nicht einen Augenblick gezögert, die dritte Alternative zu wählen. Nun ist es Zeit für mich zu gehen.“

Sie küsste ihren Mann zärtlich, öffnete einen Weg durch die Campi und ging hindurch, ohne sich noch einmal umzusehen.

Eine Woche war vergangen. Eine Woche, in der kein Dämonenangriff mehr vorgekommen war. Eine Woche, in der Dennis und Rebecca sich gegenseitig ob des großen Verlustes trösteten.

Heute sollte im großen Saal der Gemeinschaft eine Gedenkveranstaltung für Eileen stattfinden.

Magier aus allen Ländern waren erschienen, um ihr die Ehre zu erweisen.

Der Saal war mit Menschen gefüllt, wie schon seit langer Zeit nicht mehr.

Rebecca stand mit ihrem Vater neben einer Statue ihrer Mutter, die noch mit einem großen Laken bedeckt war. Die ersten Reden waren bereits vorgetragen worden und man war soweit, die Statue feierlich zu enthüllen.

Ein kleiner Magier betrat gerade das Rednerpodest, als es geschah.

Ein gleißender Blitz erhellte die Halle. Eine Gestalt in fließende Gewänder gehüllt, trat aus dem Leuchten, das dem Blitz folgte.

Mit einem Schlag war das Leuchten verschwunden und die anwesenden Magier versuchten krampfhaft ihre Augen wieder an das normale Licht zu gewöhnen.

Die Gestalt schritt bedächtig auf die Statue zu, hob langsam das Laken, blickte darunter und eine freundliche, weibliche Stimme fragte: „Dennis, sei ehrlich. Hab ich wirklich so starke Hüften?“

„Mutti!“ Rebecca lief auf die Gestalt zu, die sie liebevoll in ihre Arme schloss.

„Eileen? Du lebst?“ Auch Dennis war auf sie zugelaufen und umarmte seine verloren geglaubte Frau stürmisch.

„Was ist geschehen. Wir haben alle gedacht….“

Eileen legte einen ihrer Finger auf seinen Mund um seinen Redeschwall zu stoppen.

„Und ihr hattet Recht. Diese Implosion kann kein Mensch überleben. Ich bin gestorben. Aber die Mächtigen haben mir eine besondere Aufgabe gegeben. Ich bin eine Seelenbegleiterin. Ich führe die Seelen zu ihrem letzten Bestimmungsort.“

„Dann… Dann wirst Du uns wieder verlassen?“ Dennis konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Du brauchst Dir keine Sorgen machen. Mir ist gestattet worden so lange bei Dir zu bleiben, bis ich auch Deine Seele auf ihrer letzten Reise begleite. So lange darf ich mit Euch zusammenleben. Kommt lasst uns heimgehen.“

Eileen öffnete für sich, Dennis und Rebecca ein Portal und führte sie heim.

Als Dennis Zeit gekommen war, ging er ohne Furcht seinen letzten Weg, begleitet von seiner Eileen.

-Ende-

Thema: Schicksal

Anmerkung

Datum: 08.06.2011 | Autor: Hanns-Eckard Sternberg

Eine Geschichte, die mich, der nicht in einer derartigen Gedankenwelt zu Hause ist, doch sehr berührt hat. Es wird eine Spannung aufgebaut, der man sich nicht entziehen kann. Das Grauen, das den Leser zwangsläufig befallen muss, ja sicher soll, wird durch einen sehr versönlichen Ausgang gemildert und lässt Spielräume für das menschliche Hoffen. Eine starke Erzählung in einem für mich ungewohntem Sujet.

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