Poltergeist
Ein langgezogenes Piepen zeigte an, dass sein Herz nicht mehr schlug. Unversehens entschlüpfte er dem Körper. Schwebte empor und schaute aus ungewohnter Perspektive auf die teuren medizinischen Apparate, die jetzt abgeschaltet wurden wie zuvor seine Pumpe.
Aber warum hatte es der Chefarzt so eilig?
„Eintritt des Todes um vier Uhr sechsunddreißig“, waren seine Worte, die er so kühl
aussprach wie ein Börsianer.
Jetzt war er wütend. Die konnten doch nicht einfach aufhören! Schließlich hatte er beträchtliche Summen in die Klinik gesteckt. Und nun das? Undankbares Pack!
Stör schwebte hinab und griff nach dem Kittel des Chefarztes, fasste aber zu seiner Verblüffung ins Leere. Seine Hände glitten durch den Mann, ohne dass er großen Widerstand spürte. Zornig versuchte er es noch einmal, konnte aber auch diesmal den
Mediziner nicht ergreifen.
Das war es also. Er war tot. Sogar mausetot! Und nun? Wie ging es jetzt mit ihm weiter?
Stör sah sich etwas genauer um und entdeckte schließlich in der linken oberen Zimmerecke ein Licht, das sich schnell ausbreitete. Demnach hatten die Leute Recht, die behaupteten, man werde nach dem Tod durch einen Tunnel auf helles Licht zugehen. Dann hörte er wieder den verhassten Chefarzt.
„Seine Familie wartet draußen. Ich werde sie informieren!“ Die anderen nickten erleichtert.
Stör blickte, als der Mediziner hinausging, noch einmal auf das ihn magisch anziehende Licht, riss sich dann los und folgte dem Überbringer der Todesnachricht.
Im Chefarztbüro sah er seine Frau Petra, Tochter Susanne und Geschäftspartner Bruno Greed sitzen. Ausgerechnet Greed, dem er seine jetzige Lage zu verdanken hatte! Er merkte, wie Hass ihn durchströmte. Abgrundtiefer, aber nachvollziehbarer Hass.
Der Chefarzt trat ein und steuerte auf die drei zu. „Frau Stör, leider konnten wir für Ihren Mann nichts mehr tun. Mein aufrichtiges Beileid! Auch Ihnen, Fräulein Stör!“ Er sah, dass sich Susannes Augen vor Schreck weiteten und erste Tränen der Trauer über ihre Wangen flossen.
Seine Frau zeigte dagegen keinerlei Regung. Ein Schock, vermutete Stör.
„So wie es aussieht, ist ihr Mann am Pool ausgerutscht, mit dem Kopf an den Rand geschlagen und dann ohnmächtig ins Wasser gefallen“, erklärte der Arzt Petra. „Es war ein tragischer Unfall.“
Nein, versuchte Stör zu rufen. So war es nicht! Bruno hat mich gegen den Beckenrand geschleudert und dann ins Wasser geworfen!
Doch kein Laut kam über seine Lippen.
Wieder sah er das Licht. Erst war es sehr klein, aber bald erfasste es die ganze Wand hinter dem Schreibtisch des leitenden Mediziners.
Nein. Er würde nicht hineingehen. Noch nicht! Erst musste er versuchen, seinen Tod zu rächen.
Stör war fest entschlossen. Irgendwie würde es ihm gelingen, Bruno zu überführen.
Der Hass in ihm wurde noch größer, als er sah, dass der Geschäftspartner seinen Arm liebevoll um Petra legte und sie aus dem Zimmer führte. Susanne folgte ihnen mit einigem Abstand. Ihr Gesicht drückte Trauer aus, aber auch Wut.
Und Stör bemerkte einen Anflug von Ekel im Gesicht der Tochter, als sie ihre Mutter und Bruno in trauter Umarmung vor sich gehen sah.
Die Drei fuhren los, und Stör folgte ihnen mühelos wie ein Vogel.
Zuhause angekommen, zog sich Susanne wortlos in ihr Zimmer zurück, während es sich Petra und Bruno im Wohnbereich gemütlich machten. Bruno bediente sich am teuren Brandy aus der Hausbar und ließ sich dann wie Petra auf dem Sofa nieder.
„Die Kleine ist oben. Glaubst du, sie hat was mitbekommen?“
Bruno goss auch Petra einen Drink ein.
„Kann ich mir nicht vorstellen. Sie hätte in der Klinik nen Aufstand veranstaltet. Besonders, als der Arzt von einem Unfall sprach.“
„Hat ja alles wunderbar funktioniert. Jetzt müssen wir nur noch auf den Erbschein warten und können die Firma verkaufen. Ich denke, ich kann die Japaner ne Weile hinhalten. Ist ja eigentlich nur noch Formsache.“
Stör erstarrte. Bruno hatte ihn umgebracht, weil er die Firma verkaufen wollte? Und Petra mit ihm gemeinsame Sache gemacht?
Unendliche Wut erfasste ihn. Und obwohl er wusste, dass er keinen materiellen Körper mehr besaß, ballte er die Faust und schlug nach der Kristallschale auf der Anrichte neben der Wohnzimmertür.
Und sie bewegte sich! Nur leicht, kaum wahrnehmbar, aber Stör sah es trotzdem.
Er beschloss spontan, einen weiteren Gegenstand zu bewegen. Diesmal einen weniger massiven. Die Wahl fiel auf einen Brief, der noch ungeöffnet auf dem Sekretär in der Nähe des Fensters lag.
Er bot all seine Kraft auf, und zu seiner Überraschung gelang es ihm, den Umschlag zu Boden zu befördern.
Natürlich blieb das nicht unbemerkt.
„Schließt du bitte das Fenster? Es zieht.“ Bruno kam Sabines Bitte nach und legte danach den Brief wieder auf den Sekretär.
„Du musst Dr. Nehma anrufen. Er soll sich um die Formalitäten kümmern. Keine Sorge. Er weiß Bescheid.“
Der Notar hing auch mit drin? Stör musste an sich halten, um nicht versehentlich auf sich aufmerksam zu machen.
Petra griff zum Handy und wählte. Augenblicke später hatte sie den Notar in der Leitung.
„Petra Stör. Guten Tag, Herr. Dr. Nehma. Mein Mann ist vor einer Stunde gestorben.“
Leider konnte er nicht hören, was der Notar seiner Frau erzählte, doch schien es ihr zu gefallen, wie er ihrem Schlusssatz entnahm. Petra legte auf und wandte sich an Greed: „Dr. Nehma kümmert sich um alle Formalitäten und bereitet auch die Verkaufsunterlagen vor.“
Stör sah ein gieriges Aufblitzen in Brunos Augen, das aber sofort verschwand, als Susanne hereintrat.
„Ich bin“, sprach sie zu ihrer Mutter, „für einige Tage bei meiner Freundin Clara. Ihr habt bestimmt nichts dagegen, oder?“
Dann drehte sie sich auf dem Hacken um, knallte beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu und verließ das Haus.
Bruno zuckte nur kurz mit den Schultern und schlang seine Arme liebevoll um Petra.
„Ich bin im Augenblick nicht in Stimmung“, meinte die und löste sich von ihm. „Wir sollten jetzt besser am Pool nachsehen, ob es irgendwelche Spuren von uns gibt. Der Arzt sprach zwar von einem Unfall, aber man weiß nie, wie dumm es kommt.“
Bruno seufzte, folgte ihr aber auf die Terrasse. Stör schwebte hinter beiden her und überlegte fieberhaft, wie er sich an ihnen rächen könnte.
Er sah, dass Bruno den Wasserhahn aufdrehte und mit dem Schlauch die Fliesen um den Pool zu reinigen begann. Petra nahm derweil einen Schrubber in die Hand und bearbeitete mit ihm wie eine Wahnsinnige die nassen Fliesen.
Störs Wut steigerte sich abermals, als das Mörderpaar sich der Stelle näherte, an der Bruno seinen Kopf gegen den Beckenrand geschlagen hatte.
Störs Wut verwandelte sich in pure Energie und Eiseskälte strömte aus ihm heraus. Als dichter Nebel kroch sie zum Mörderpaar und vereiste auf ihrem Weg das Wasser auf den Fliesen.
Petra und Bruno standen mit dem Rücken zu ihm und bemerkten die drohende Gefahr nicht. Eifrig putzend rückten sie vor und erreichten schließlich die am Beckenrand stehenden Liegen.
„Was ist das?“, schrie Bruno, als er die Gefahr endlich erkannte.
Das merkt ihr gleich, schoss es Stör durch den Kopf, und er versetzte beiden einen Stoß, der sie auf den eisigen Fliesen zu Boden warf.
Die Köpfe schlugen hart auf, und in seinem Zorn gelang es ihm, das Paar in den Pool zu befördern und unter Wasser zu drücken.
Augenblicke später bildete sich auch im Becken eine Eisschicht, die Bruno und Petra zum Verhängnis wurde. So sehr sie sich, aus ihrer Ohnmacht erwacht, auch abmühten. Ihnen gelang es nicht, die dicke Eisschicht zu durchbrechen. Bruno sah dem Todeskampf
zufrieden vom Beckenrand aus zu, bis er das Licht wieder sah.
Zunächst war es nur klein, dann aber strahlte es überall um ihn herum Noch einmal blickte er auf Petra und Bruno, die sich nicht mehr rührten, und jetzt war es Zeit zu Gehen.
Er lachte frohgemut und trat in das Licht.
- Ende -